Warum ich davon überzeugt bin, dass Faulheit nicht existiert

Seit 2010 leite ich mit meinem Mann eine Unternehmensberatung. In den letzten zehn Jahren haben wir gesehen und erlebt, wie Menschen - unabhängig von Zugehörigkeiten, Alter, Geschlecht oder Rollen - Aufgaben abgelehnt, Meetings verschoben, Termine vergessen und Deadlines verstreichen haben lassen.

Ich habe erlebt, wie Menschen Aufgaben an andere weitergegeben, wie sie strikt Dienst nach Vorschrift gemacht oder alles wortwörtlich ausgeführt haben, ohne den Anschein zu wecken, ihr eigenes Hirn einschalten zu wollen. Je mehr ich darüber nachdenke und auch je mehr ich all diese Gegebenheiten Revue passieren lasse, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass kein einziges Mal die Ursache eines solchen Verhaltens in Faulheit zu finden ist.

Ich habe mich in unserer Beratung darauf spezialisiert, das menschliche Verhalten zu verstehen und zu analysieren, Muster zu entdecken und bei Veränderung zu unterstützen. Dabei habe ich entdeckt, dass Verhalten immer im Rahmen der Situationen und des Kontextes betrachtet werden muss. Denn es sind vor allem soziale Normen und der Kontext, die das Verhalten einer Person maßgeblich bestimmen. Situationsbedingte Einschränkungen können in der Regel Verhaltensweisen weitaus besser und genauer prognostizieren als es jeder Persönlichkeits- oder Intelligenztest je könnte.

Wenn ich also beobachte, dass MitarbeiterInnen Termine nicht einhalten oder Aufgaben einfach nicht erledigen, stelle ich mir automatisch die Frage nach dem Warum. Was ist der Grund, warum dieser Mensch diese Tätigkeit nicht macht? Warum verschiebt er/sie lieber und setzt sich damit automatisch dem gesellschaftlichen Stress aus? Welche Bedürfnisse sind es, die eventuell nicht erfüllt sind? Was hindert diese Person, ins Handeln zu kommen?

Menschen lieben es, Faulheit für menschliches Nichthandeln verantwortlich zu machen. Sich auf irgendwelche Außenfaktoren auszureden oder Dinge einfach nicht zu tun, sieht für ein ungeübtes Auge auch ehrlich gesagt schnell danach aus. Sogar die Leute, die selber zögern oder Dinge nicht erledigen, verwechseln sehr oft ihr Verhalten mit Faulheit. Wenn jemand etwas tun soll und er/sie tut es einfach nicht, dann bedeutet das - im Umkehrschluss - eigentlich, dass derjenige damit versagt… oder? Damit müsste diese Person willensschwach und/oder unmotiviert sein.

Wenn wir aber beispielsweise ein Projekt, für das wir uns interessieren, nicht starten, liegt es allerdings in der Regel daran, dass wir uns entweder Sorgen darüber machen, dass unsere Versuche nicht „gut genug“ sind, oder dass wir uns nicht sicher sind, was die ersten Schritte sind, die erledigt werden müssen. Es liegt aber in den allerwenigsten Fällen daran, dass wir nicht wollen - oder gar faul sind. Vielmehr ist der Grund in der Aufschieberitis zu finden. Zu oft reden wir uns dann ein, dass die Aufgabe viel zu wichtig ist und wir es nur vermasseln können. Kein Wunder, dass wir uns dann nicht trauen, diese Aufgabe einfach hinter uns zu bringen und nach bestem Wissen und Gewissen zu erledigen.

Wenn Sie vor Sorge vor einem möglichen Scheitern einfach wie gelähmt sind, ist es schwer, mit irgendetwas anzufangen. Das hat überhaupt nichts mit fehlender Willenskraft oder fehlender Motivation zu tun. Sie könnten sogar stundenlang vor dem Computer sitzen und nichts anderes machen, als auf dem Bildschirm zu starren und nachzudenken. Am Ende werden Sie sich vermutlich mehr beschimpft und Stress gemacht haben - eine Handlung, die von Prokrastinatoren am liebsten durchgeführt wird. Sie können sich zwar ständig Vorwürfe machen, aber das wird Ihnen nicht weiterhelfen. Vielmehr wird Ihr Wunsch, dass Sie endlich vorankommen, alles nur verschlimmern, weil Sie sich noch mehr Stress machen.

Die Lösung findet sich stattdessen darin, dass Sie damit beginnen, nach dem wahren Grund Ausschau zu halten. Wenn es eine Angst ist, dann sollten Sie einen Schritt weg von Ihrer Arbeit machen und eine entspannende Aktivität ausüben. Von anderen Leuten als „faul“ bezeichnet zu werden, ist so als würden Sie Öl in eine Flamme gießen…

Die meisten Menschen benötigen einfach Struktur, um an den Aufgaben dranzubleiben. Wenn es um ein großes, umfangreiches Projekt geht, wünschen sich viele Hilfe von außen in Form von Vorschlägen, wie sie die Aufgaben in kleinere Teile packen. Oder sie wünschen sich einen genauen Zeitplan für die Fertigstellung. Um den Fortschritt zu verfolgen, halten dann Tools wie eine Aufgabenliste, ein Kalender oder ein Plan her. Wenn Sie gerne auf solche Hilfsmittel zurückgreifen und mehr Zeit in der Suche nach dem passenden Werkzeug stecken als in die Aufgabe selbst, dann zeigt es doch, dass Sie alles andere als faul sind. Es macht nur sichtbar, dass Sie Unterstützung suchen.

Je mehr wir uns darauf einlassen und verstehen, was hinter dem Aufschieben einer Aufgabe steckt, desto mehr können wir uns entwickeln und anderen bei deren Wachstum unterstützen.

Ich hatte einmal in einem Projekt eine Person im Team, die sich ständig nur zurückgezogen hat, am liebsten ein langes Gesicht zog und alles machte, um ja nicht zu einer Aufgabe eingeteilt zu werden. Viel lieber saß sie still in der Ecke und maulte vor sich hin. Manches Mal sah ich sie in der Früh in der Nähe des Unternehmens sitzen und sie sah richtig müde aus. Wenn das Meeting dann startete, war sie aber nie rechtzeitig da, sondern kam immer mindestens 30 Minuten später als alle anderen. Viele ihrer Kollegen hielten diese Mitarbeiterin für faul, teamunfähig und arrogant. Ich weiß das, weil sie offen darüber gesprochen und sich mehrfach beschwert haben.

Im Rahmen des Projektes passierte eine spannende Wendung: Die Aufgabe war, ein Produkt zu entwickeln und die Zielgruppe bestand aus Menschen, die an chronischen Krankheiten leiden. Im Verlauf des Projekts sprachen wir viel über Themen wie Vorurteile, die Menschen gegen Menschen mit chronischen Erkrankungen haben. Wir haben bei den Befragungen immer wieder gehört, dass gesunde Menschen oft das Gefühl hatten, die Krankheit würde als Ausrede benutzt werden. Stimmungsschwankungen wurden als manipulativ oder generell als inkompetent wahrgenommen.

Die ruhige, zurückgezogene Kollegin brachte sich bei solchen Diskussionen zum ersten Mal so richtig ein. Nach dem Meeting bat sie mich um ein Gespräch und erzählte mir von ihrer Erkrankung, die sie einfach sehr müde machte und die sie dazu zwang, starke Medikamente einzunehmen. Manchmal war sie einfach nicht in der Lage, das Haus zu verlassen. Sie wagte es nicht, es jemanden zu sagen, weil sie Angst davor hatte, dass andere dachten, sie würden denken, dass sie ihre Krankheit als Ausrede benutzte. Aber sie vertraute sich mir an, weil sie wusste, dass auch ich diese Situation aus eigener Erfahrung nur zu gut kenne.

Und ich verstand sie. Ich verstand sie, weil ich weiß, wie sehr eine chronische Erkrankung ein Hindernis sein kann und wie schwer manches Mal der eigene Umgang damit ist. Wie unvorhersehbar das Wohlempfinden und die Reaktionen des Körpers sein können. Dabei wurde ich wirklich wütend und traurig, weil diese Person sich für ihre Symptome verantwortlich fühlte und auch von ihrem Umfeld dafür verantwortlich gemacht und in Schubladen gesteckt wurde.

Im Laufe der Jahre begegnete ich in anderen Unternehmen sehr ähnlichen Menschen, die unterschätzt wurden, weil die Barrieren in ihrem Leben nicht als legitim angesehen werden. Wann immer ich kann, spreche ich offen darüber und versuche Betroffenen Selbstvertrauen zu geben und als Beispiel voranzugehen, indem ich offen über meine eigene Erkrankung und meine Probleme damit spreche. Ich versuche ihnen den Mut zu geben, sich nicht einschüchtern zu lassen und die Barriere nicht als Hindernis, sondern als Chance zu sehen, um auch andere Kollegen zu desensibilisieren und neue Perspektiven zu bieten.

Ungerechtigkeit und Unwissenheit machen uns blind für die unsichtbaren Hindernisse, denen wir alle gegenüberstehen. Es muss nicht immer Krankheit sein, manches Mal sind es Schicksalsschläge, Erfahrungen aus der Vergangenheit oder Probleme in der Gegenwart. Wir müssen aufmerksam werden für die äußeren Faktoren, die zu Problemen führen.

Sich oder andere als faul zu bezeichnen, ist keine Entscheidung, die einfach so getroffen werden sollte. Wenn eine Person etwas nicht macht, gibt es oft einen Grund, der sie davon abhält. Es ist vielleicht ein bestimmter Aspekt einer Aufgabe, den er oder sie einfach nicht ohne Hilfe erledigen kann.

Selbst wenn sich eine Person aktiv für eine Selbstsabotage entscheidet, gibt es einen Grund dafür - einige befürchten, dass sie sich durcharbeiten, andere müssen nicht erfüllt werden, und ein Mangel an Selbstwertgefühl wird ausgedrückt.

Niemand entscheidet sich dafür, absichtlich zu scheitern oder andere zu enttäuschen. Niemand möchte sich unfähig oder nichtsnutzig fühlen. Wenn Sie voreilig die Handlung einer Person abstempeln und sie als faul bezeichnen, dann fehlen Ihnen vielleicht wichtige Informationen. Denn es gibt immer eine Erklärung. Es gibt immer Hindernisse und Barrieren. Nur weil Sie sie nicht sehen oder nicht als legitim anerkennen, heißt das nicht, dass sie nicht existieren.