Warum Empathie überwertet wird

Empathie ist in. In erfolgreichen Unternehmen wird es zu den wichtigste Fähigkeiten gezählt, die uns zukunftsfit machen. Aber was genau ist Empathie? Viele Menschen, die sich selbst als empathisch bezeichnen, sind sehr scharfsinnige, herzliche Personen, die über ein großes Netzwerk verfügen. Sie sind fasziniert vom Verhalten anderer, finden schnell die richtigen Worte zur richtigen Zeit und vermitteln Gefühle wie Schutz und Verständnis. Alles schön und gut, aber wie hilft diese Art der Empathie einander wirklich mehr zu unterstützen oder gar sinnvollere Handlungen vorzunehmen?

Wenn Empathie zur Illusion führt

Fragt man, was jemand unter Empathie versteht, kommt oft der Ausspruch "sich zu fühlen, wie sich eine andere Person fühlt" oder "in dessen Schuhen zu gehen". Wenn eine empathische Person miterlebt, wie jemand geschlagen wird, löst das Empathie-Hormon Oxytocin eine chemische Reaktion aus, die die emotionalen Gefühle der geschlagenen Person in uns simulieren.

Das Problem bei dieser Definition von Empathie ist, dass sich die Menschen, die solche Gefühle wahrnehmen können, oft als einzigartig, gesegnet oder auch verflucht empfinden, da sie einen “sechsten Sinn” dafür haben, wie andere sich fühlen, den nicht jeder hätte.

Meiner Meinung nach ist Empathie kein einzigartiges Geschenk oder gar etwas Magisches. Die gefühlte Simulationen von Emotionen können extrem intensiv und überzeugend sein - aber das bedeutet nicht, dass Sie mit Ihren eigenen Interpretationen, wie sich jemand anderer fühlt, auch richtig liegen. Wenn die Mimik einer Person schwer zu lesen ist oder wenn deren Erfahrungen und Reaktionen einfach nicht der Norm entsprechen und damit ungewöhnlich sind, kann Empathie Sie möglicherweise auf eine vollkommen falsche Fährte locken.

Ich erlebe das fast täglich selbst. Aufgrund einer Erkrankung, die noch nicht heilbar ist, habe ich oft Schmerzen, die mir das Liegen erschweren und die dazu führen, dass ich in der Nacht aufstehen muss. Das hat dazu geführt, dass ich eine Gewohnheit entwickelt habe, früh aufzustehen, selbst wenn ich ausnahmsweise keine Schmerzen habe, und mit der Arbeit zu beginnen. Es ist zu einer liebgewonnenen Routine geworden, denn in dieser Zeit kann ich kreativ und ohne Störungen arbeiten. Wenn ich in diesem Zeitfenster eine Mail verschicke, findet sich oft in der Antwort ein mehr oder weniger versteckter Hinweis auf meine angebliche Schlafstörung. Dabei bekomme ich genug Schlaf und ich bin (meistens) ausgeruht und fit. Diese falsche Interpretation führt dazu, dass ich mich missverstanden und unwohl fühle. Statt Nähe herzustellen, wird Distanz aufgebaut.

Wenn wir zu sehr von der eigenen intuitiven Magie unseres Einfühlungsvermögens überzeugt sind, riskieren wir Fehleinschätzungen. Hinzu kommt, dass wir Verhalten, das wir nicht einordnen können oder das wir als falsch erachten, als herzlos, unsensibel oder unempathisch kategorisieren. Wir empfinden Sympathie eher für Menschen, die Emotionen auf eine Weise ausdrücken, die uns aufgrund unserer eigenen Kultur und Erfahrung als richtig erscheint. Anstatt uns zusammenzubringen, kann uns falsch verstandenes Einfühlungsvermögen auseinandertreiben.

Der wichtige Unterschied zwischen kognitiver und affektiver Empathie

In der Psychologie wird zwischen affektiver (emotionaler) Empathie und kognitiver (mentaler) Empathie unterschieden. Bei affektiver Empathie fühlen wir das, was wir glauben, dass eine andere Person fühlt. Bei kognitiven Empathie nehmen wir eine Perspektivannahme vor: Wir stellen uns vor, wie es ist, mit den Augen einer anderen Person zu sehen. Wir denken darüber nach, was diese Person in dieser speziellen Situation durchmachen könnte.

Perspektivische Annahmen unterscheiden sich aber in vielerlei Hinsicht von affektiver Empathie. Zum einen ist das Annehmen von verschiedenen Perspektiven eine Fähigkeit, die jeder erlernen kann. Nichts anderes mache ich in meiner Arbeit als Unternehmensberaterin mit dem Schwerpunkt Design Thinking: Ich beobachte das Verhalten von verschiedenen Personen und befrage sie dann, ob meine Annahmen und Beobachtungen auch richtig sind. Das Einnehmen von fremden Perspektiven beinhaltet das sorgfältige Nachdenken und Analysieren der Handlungen anderer Menschen. Ich erweitere durch aktives Zuhören und Nachdenken über das Gesehene mein eigenes Verständnis ohne gleich mit Klischees zu antworten. Dieses Vorgehen hat nichts mit einem außergewöhnlichen Instinkt zu tun. Jeder kann diese Fertigkeiten erlernen und stetig verbessern.

Empathie kann überfordern

Affektive Empathie kann überwältigen. Wenn wir die Gefühle anderer spüren (oder das, was wir für deren Gefühle halten), sind wir schneller überfordert. Es fehlt dann der Blick für das, was wirklich da ist. Möglicherweise verlieren wir sogar die andere Person aus den Augen, weil wir dessen Gefühle selbst so stark durchleben und dann nur mehr schwer zwischen unserer Person und dem anderen unterscheiden können. Ich werde zum Beispiel richtig müde, wenn ich mit einer wirklich verzweifelten Person spreche, mich nicht abgrenze und dadurch deren extreme Gefühle wahrnehme.

Zum Problem wird Empathie dann, wenn unser Einfühlungsvermögen das eigene Hilfsverhalten blockiert.

Empathie ersetzt keine Handlungen

Empathie ist eine innere Erfahrung. Es unterstützt aber nicht automatisch bei der Beseitigung gesellschaftlicher Ungerechtigkeit oder gibt konkrete Hilfestellungen. Wenn Menschen den Mangel an Empathie in unserer Kultur beklagen, sprechen sie meistens den Mangel an mitfühlenden Handlungen an. Mitgefühl führt uns dazu, für andere zu sorgen, Verbindungen (wieder) aufzubauen oder auch zu Dingen wie für Lebewesen in Not zu spenden.

Wenn Empathie Sie mit dem Wunsch nach mehr Menschlichkeit erfüllt, ist das großartig. Dann sollten Sie diesem Impuls unbedingt folgen. Übersetzen Sie dann dieses Gefühl in eine direkte Aktion. Sie müssen dazu aber nicht unbedingt die Gefühle anderer erleben. Um sich um das Wohlbefinden anderer zu sorgen, müssen Sie einfach nur der Überzeugung sein, dass jedes Leben etwas wert ist und dass es sich lohnt, Leiden so weit wie möglich zu minimieren und Freude zu maximieren.